Frau Dr. Heratizadeh, was genau verbirgt sich hinter AGNES e.V.?

Der Verein AGNES hat seine Wurzeln ursprünglich in einer Ausschreibung des Bundesministeriums für Gesundheit zur Verbesserung der Vorsorge und Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit atopischem Ekzem. Für diese Ausschreibung schlossen sich Ende der 1990er Jahre einige aktive Kinder- und Hautärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Zentren in Deutschland zusammen und riefen mit Kolleginnen und Kollegen aus weiteren Fachgruppen AGNES ins Leben: Gemeinsam mit Psychologinnen und Psychologen, Pädagoginnen und Pädagogen, Ärztinnen und Ärzten für psychosomatische und psychotherapeutische Medizin, Pflegefachkräften und Ernährungsfachkräften entwickelten sie eine interdisziplinäre Schulung zum Krankheitsbild Neurodermitis für Kinder und deren Eltern sowie für Jugendliche. Gleichzeitig wurde eine Studie konzipiert, die der wissenschaftlichen Evaluation dieser Schulung diente.

Was ist das Besondere an AGNES?

Was AGNES ausmacht, ist sicherlich der interdisziplinäre Ansatz, in dem Neurodermitis-Betroffene unterschiedlicher Altersgruppen bzw. deren Familien geschult werden. Der Erfolg gibt dem Konzept recht: Im Jahr 2006 wurden die Ergebnisse der Studie mit dem auf dem Modellvorhaben basierenden Schulungskonzept international publiziert. Diese belegen sehr überzeugende Effekte der Schulung in allen drei Altersgruppen von 0-7 Jahren bzw. 8-12 Jahren sowie Jugendlichen von 13-18 Jahren.

So hatte sich der Hautzustand ein Jahr nach Teilnahme an der Schulung gegenüber dem Zustand vor der Schulung signifikant, d.h. deutlich messbar verändert – sowohl objektiv als auch nach persönlicher Einschätzung der Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern. Ebenfalls verbesserten sich die Lebensqualität der Eltern der 0-7-jährigen und 8-12-jährigen Betroffenen sowie die Belastung durch Neurodermitis und Strategien zum Umgang mit der Erkrankung. Die positiven Ergebnisse lieferten schließlich die Grundlage für die Fortführung einer sukzessiven Umsetzung der Schulung in Deutschland. Ebenso konnten wir in einer bundesweiten Studie signifikante positive Effekte einer Schulungsteilnahme auf den Hautzustand, den Umgang mit der Erkrankung und die Lebensqualität bei Erwachsenen mit Neurodermitis beobachten. Für diese Altersgruppe wurde das Schulungsprogramm der Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung für Erwachsene (ARNE) konzipiert.

Wie sind die AGNES-Schulungen aufgebaut und welche Inhalte werden hier vermittelt?

Sowohl bei Schulungen nach AGNES als auch nach ARNE-Konzept werden die Schulungseinheiten von 1-2 Trainerinnen bzw. Trainern geleitet. Bei fachübergreifenden Einheiten ist das eine Kombination aus psychologischer/pädagogischer und ärztlicher Fachkraft, um beiden Komponenten und den vielfältigen Bedürfnissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerecht zu werden. Zu Beginn der Schulung werden die Fragen aus der Kleingruppe zunächst gesammelt. Anschließend werden Antworten und Optionen zur Problemlösung, basierend auf den Inhalten eines standardisierten und sowohl bei AGNES als auch bei ARNE verbindlichen Schulungsprogramms, interaktiv erarbeitet. Hier geht es dann zu Beginn erst einmal um Krankheitsfaktoren und die Entstehung der Neurodermitis, d. h., woher kommt die Erkrankung und welche Faktoren sind relevant und welches sind wissenschaftliche fundierte diagnostische Verfahren rund um die Erkrankung Neurodermitis? Wir versuchen also das Verständnis für das Konzept der Erkrankung zu vermitteln, um dann im nächsten Schritt gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten zu erarbeiten, welches mögliche individuelle Auslösefaktoren der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bzw. Erkrankten sein könnten. Die Eltern bzw. Betroffenen verstehen dann meist sehr schnell, dass zwar jeder seine „eigene Neurodermitis“ hat, es aber dennoch grundsätzliche Gemeinsamkeiten gibt. Dies in der Gruppe, die sich über 3-6 Wochen hinweg regelmäßig in den Schulungen trifft, aufzuarbeiten, hilft ihnen ganz besonders. Wir gehen dann in die empfohlenen therapeutischen Ansätze über – angefangen mit der Hautpflege und äußerlichen antientzündlichen Therapeutika bis hin zu innerlichen Medikamenten wie z.B. Biologika. Dabei stellen wir immer klar, dass es kein Standardverfahren für alle Patientinnen und Patienten gibt, sondern die Therapie immer individuell auf den jeweiligen Einzelfall auszurichten ist. Dies erfolgt immer interaktiv mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und nicht frontal, abgesehen von informativen und impulsgebenden Sequenzen seitens der Trainerinnen und Trainer.

Wie liefen die Schulungsprogramme in Zeiten von COVID-19?

Sehr heterogen. In 2020 haben wir einen Rückgang verzeichnet, da es natürlich für alle weltweit eine sehr außergewöhnliche Situation war und immer noch ist. Unser Verein AGNES e.V. hat aber sehr gekämpft. Wann immer es ging, wurde geschult. In einzelnen Schulungszentren wurden in dieser Ausnahmesituation reine Online-Schulungen oder im Rahmen einer „kombinierten“ Schulung die Verbindung aus Online- und Präsenzterminen, um die Präsenzzeiten zu reduzieren, ins Leben gerufen. Jedoch muss man sagen, dass die Schulungskonzepte auf Präsenz ausgelegt sind. Sowohl die Evaluation als auch die Gemeinsamen Empfehlungen der GKV-zur Förderung und Durchführung von Patientenschulungen für Kinder und Jugendliche mit atopischem Ekzem (Neurodermitis)basieren auf dieser im Rahmen einer kontrollierten Studie evaluierten Art der Umsetzung. Mittlerweile gibt es einige Projekte, die sich auch mit Onlineversorgungskonzepten beschäftigen. Hier hat AGNES aktuell, im Hinblick auf ein die Schulung ergänzendes digitales Versorgungskonzept, die Rolle einer Kooperationspartnerin inne. Hierbei soll nicht die Schulung als Präsenzveranstaltung abgelöst werden, sondern vielmehr geht es darum, zusätzliche wirkungsvolle Informationsmöglichkeiten zu schaffen für die „weißen Flecken“ auf der Landkarte und Bevölkerungsgruppen, die wir mit diesem Schulungsangebot nicht erreichen können, z.B. weil nicht die Möglichkeit besteht, regelmäßig eines unserer Schulungszentren aufzusuchen.

Dr. med. Annice Heratizadeh

Dr. med. Annice Heratizadeh ist Oberärztin an der Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie der Medizinischen Hochschule Hannover.
© Karin Kaiser/MHH

Wie werden die Schulungen von Betroffenen und deren Angehörigen angenommen?

Die Schulungen sind gut besucht. Vor der COVID-19-Pandemie in 2019 hatten wir 3.550 Eltern, Kinder und Jugendliche übers Jahr verteilt in gut 500 Kursen der AGNES e.V., ambulant und Reha zusammengerechnet. Rein ambulant konnten wir 1.280 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in 175 AGNES-Schulungen in Ergänzung zur ambulanten Regelversorgung verzeichnen. Voraussetzung zur Teilnahme ist, dass ärztlicherseits mindestens eine mittelschwere Neurodermitis diagnostiziert wurde. Der Bedarf ist dabei in allen Altersgruppen vorhanden, denn beim Umgang mit der Erkrankung bei den Eltern der ganz Kleinen, dem schubhaften Verlauf bei den älteren Kindern und der Chronifizierung bei den Erwachsenen herrscht ein ganz großer Informationsbedarf.

Welche Vorteile sehen Sie in Schulungsangeboten wie AGNES und ARNE?

Die Schulungen werden wohnortnah und – das ist ein ganz wichtiger Punkt – nicht als Wochenendblock, sondern mit 6 Treffen über optimalerweise 6 Wochen verteilt angeboten. Dazwischen gibt es also immer wieder Phasen, in denen die Eltern und Betroffenen das Gelernte im Alltag anwenden und ausprobieren können. Diese Möglichkeit zur Anwendung in einem engmaschigen Zeitverlauf von 6×2 Stunden und auch die Möglichkeit, über die Erfahrungen zu sprechen, ist sehr wichtig. Sowohl bei AGNES als auch bei ARNE besteht somit über insgesamt 12 Stunden für die Betroffenen die Gelegenheit, sich mit Expertinnen bzw. Experten und qualifizierten Trainerinnen und Trainern zum Thema Neurodermitis auszutauschen und all‘ ihre Fragen zu stellen und Neues zu erfahren – von der Entstehung der Erkrankung über Auslösefaktoren, Therapie, medizinische und pflegerische Aspekte bis hin zu Ernährungsfaktoren und psychologischen einschließlich verhaltenstherapeutischen Elementen. Insbesondere diese Interdisziplinarität kann die ambulante Regelversorgung allein meist nicht leisten. Zudem haben die Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern die Möglichkeit, Gelerntes zu überprüfen und auch wieder rückzukoppeln sowie überhaupt auch neue Strategien für sich mitzunehmen. Das alles gelingt besonders gut durch die Kleingruppen von 6 bis maximal 12 Personen, die für die Dauer einer Schulung so auch bestehen bleiben. Hieraus entsteht meist eine positive Gruppendynamik, die den Weg ebnet für den wichtigen Austausch der Betroffenen untereinander und die gegenseitige Bestärkung. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt im Vergleich zur Einzelschulung.

Welchen Stellenwert haben solche Schulungen in der Neurodermitis-Behandlung? Welche Rolle spielen dabei die Hautärztinnen und Hautärzte?

Ich bin selbst als Dermatologin in der Versorgung tätig und weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Vielfalt an themen- und fachübergreifenden Möglichkeiten wie im Rahmen der Schulungen als einzelne Fachgruppe mit dem entsprechenden Zeitkontingent in der ambulanten Regelversorgung nicht geboten werden kann. Der Stellenwert der Schulung als ergänzende wohnortnahe Versorgungsmaßnahme ist daher sehr hoch. Auch fachübergreifend sind Expertinnen und Experten zu dieser Erkrankung im Konsens darüber, dass Schulungen ein wichtiger, nicht wegzudenkender Teil der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Neurodermitis bzw. deren Familien sind. Aus diesem Grund werden Schulungen sowohl in der deutschen als auch in der europäischen Leitlinie als Teil des Krankheitsmanagements bei Neurodermitis empfohlen.

Wie gestaltet sich die Kostenübernahme durch die Krankenkassen?

Dadurch, dass die GKV-Spitzenverbände Empfehlungen zur Förderung und Durchführung von Patientenschulungen für Kinder und Jugendliche mit Neurodermitis formuliert haben, gestaltet sich die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen weitestgehend positiv. Auf Einzelantrag werden die Kosten den betroffenen Familien meist vollständig, ansonsten der Großteil der Kosten erstattet.

Auf welche Meilensteine und Erfolge blicken Sie bislang zurück?

Mittlerweile gibt es 96 AGNES-Schulungszentren in Deutschland. Natürlich ist es nie genug, aber man kann schon sagen, dass wir die Implementierung in die Fläche erfolgreich vorangetrieben haben. Wir haben knapp 1.600 Trainerinnen und Trainer speziell für die Schulungsaktivitäten und Schulungskompetenzen ausgebildet sowie Qualitäts- und Ausbildungsstrukturen etabliert. Seit Entstehung des AGNES e.V. durch 11 Gründungsmitglieder hat sich eine Gemeinschaft von 454 AGNES-Mitgliedern gebildet, die sich – häufig zusätzlich zu ihrem Beruf und teils ehrenamtlich – dieser Tätigkeit widmen. Unser Ziel ist es, die Trainerschaft und die Kursangebote stetig zu erweitern.

Ein Blick nach vorn: Welche Ziele haben Sie sich als Verein für die nächsten Jahre gesteckt?

Unser primäres Ziel besteht erst einmal darin, die Schulungsmöglichkeiten im Rahmen der Pandemie so weiterführen zu können, dass eine entsprechende Versorgung der Betroffenen und deren Familien bestmöglich gewährleistet werden kann. Alle AGNES-Schulungsaktiven sind auch weiterhin sehr bemüht, Schulungen anbieten zu können, wo es nur geht, d.h. z.B. neue Räumlichkeiten zu finden und die Gruppengrößen anzupassen, um die jeweiligen Hygieneregeln umzusetzen – all das hat uns bereits seit Beginn der Pandemie sehr stark gefordert und wird es auch weiterhin, um Präsenzschulungen, immer wenn möglich, zu realisieren. Ein perspektivisches Ziel ist es zudem, Betroffene, die momentan noch nicht gut mit dem Schulungsangebot zu erreichen sind, in Zukunft zu identifizieren und entsprechende schulungsbasierte Versorgungskonzepte zu entwickeln. In einem Leitlinien-bezogenen Projekt von der Medizinischen Hochschule Hannover und der Charité aus wurden außerdem u.a. niedergelassene Dermatologinnen bzw. Dermatologen sowie Behandlerinnen bzw. Behandler aus weiteren Fachgruppen für die Indikation Neurodermitis zum Stellenwert der Schulung in der Versorgung befragt. Hier besteht der Wunsch nach mehr Informationen zu den Schulungsangeboten, dem wir ebenfalls mit stetigen Informationskampagnen zu Neurodermitis-Patientenschulungen nachkommen möchten. Ein offenes Ziel für die Erwachsenenschulung nach ARNE-Konzept ist – nach dem Vorbild der AGNES – dieses Schulungsangebot ebenfalls in die GKV-Versorgung zu implementieren und damit eine flächendeckende Umsetzung anzustreben.

Frau Dr. Heratizadeh, vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Informationen zu den Schulungsprogrammen von AGNES und ARNE findest du hier: www.neurodermitisschulungen.de

In deiner Haut steckt niemand geringeres als du selbst und zwar dein ganzes Leben lang. Umso wichtiger ist es, dass du dich darin so wohl wie möglich fühlst – trotz Neurodermitis. Heute gibt es gute Möglichkeiten, dies zu erreichen. Warum sich also mit weniger zufriedengeben? Sprich mit deiner Hautärztin bzw. deinem Hautarzt!